Ansprache zur fünfte Verlegung von Stolpersteinen in Meinerzhagen, 2. Oktober 2021

Christina Först für die Initiative Stolpersteine

 

Ich wünsche allen Anwesenden einen Guten Morgen, denn heute ist ein guter Tag: Wir sind froh und dankbar, dass heute in unserer 5. Verlegung die letzten 9 von 47 ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern durch die Stolpersteine einganz individuelles Gedenken an ihr Leben mitten unter uns erhalten. Die Familien der Meinerzhagener Brüder Nathan und Emil Stern (in der Hauptstraße), verheiratet mit den Schwestern Rosa und Paula Emanuel aus Olpe.

Als Organisatoren danken wir - mit Rücksicht auf die jüngsten Ereignisse in Hagen - Herrn Falz für die sorgsamen Absperrungen und der (örtlichen und überörtlichen) Polizei für die Sicherung unserer Veranstaltung.

Im Namen unserer Initiative Stolpersteine Meinerzhagen/ Kierspe begrüße ich nun besonders herzlich unsere 6 Gäste, die den weiten Weg aus den USA auf sich genommen haben - (trotz der Coronaeinschränkungen, die das Ganze bis vor 10 Tagen noch zu einer Zitterpartie gemacht haben): Steve Fischbach, Gail Stern und ihre Schwägerin Sheri waren bereits mehrfach bei uns. Sheri‘s Sohn Ryan ist erstmalig in Deutschland und Meinerzhagen - und auch Rene und Yvonne Danielfür deren Familie hier und in der Hauptstraße heute Steine verlegt werden.

Ein herzliches Willkommen auch unserem Bürgermeister Jan Nesselrath - und Ihnen allen, die sie sich heute auf den Weg hierher gemacht haben, weil sie das Projekt Stolpersteine unterstützen und viele von ihnen wahrscheinlich bereits an Verlegungen teilgenommen haben.

Besonders begrüßen möchte ich die Schülerinnen und Schüler des Projektkurses „Jüdisches Leben in Meinerzhagen“, die diese letzten beiden Verlegungen mit ihrem Antrag an den Rat der Stadt erst möglich gemacht haben. Nur dank ihres großartigen Engagements können wir heute sagen:

 

10 Jahre Initiative Stolpersteine – 10 x Stolpersteine vor den 10 letzten frei gewählten Wohnorten unserer ehemaligen jüdischen Mitbürger. (Das sollte uns einen Applaus wert sein)

Neben dem Projektkurs des evangelischen Gymnasiums, für den heute Lilli Janßen und Leoni Steinke sprechen werden, freuen wir uns sehr, dass auch der Unterstufenchor des EGM heute für uns singt.

Pastor Kemper Kohlhase wird ein Gebet sprechen. Ihm und der evangelischen Gemeinde gilt ebenfalls ein besonderer Dank, da wir und alle Interessierten unter Ihnen, sich nachher wieder wie selbstverständlich im Gemeindehaus und auf dem Kirchplatz vor der JCK bei Kaffee und Imbiss treffen und austauschen können. Hier nochmals die herzliche Einladung an Sie alle.

 

5 Steine

 

5 Menschen

 

5 Namen

 

Nathan & Rosa Stern (Yvonnes Großeltern), deren Sohn Hugo und Tochter Hedwig (Yvonne’s Mutter), und als fünfte Nathan’s Cousine Paula -

diese 5 Menschen stehen stellvertretend für die Alternativen:

 

Deportiert und ermordet - vertrieben - oder in den Suizid getrieben.

 

Ich möchte hier nur wiedergeben, was unsere Nachbarin Anni Boese mir Jahrzehnte später noch erschüttert erzählte: Sie hatte vom Fenster aus gesehen, wie Yvonnes Mutter Hedwig am Morgen des 10.Novembers 1938 verzweifelt weinte und schrie, als hiesige SS-Männer alle sakralen Gegenstände, Tora-Rollen, Kerzenständer und Mobiliar aus dem früheren Gebetsraum vor ihren Augen HIER auf die Straße zerrten, zertrampelten und schließlich anzündeten.

Die Schreie von Hetti werde sie nie vergessen, sagte Anni und auch nicht den Schrecken und die Angst, die sie selber von diesem Moment an gefangen hielten. Hetti floh 2 Monate nach diesem Vorfall nach Schanghai, der einzige Hafen, der zu diesem Zeitpunkt noch jüdische Flüchtlinge aufnahm. Hier wurde Yvonne 1944 geboren.

Hettis Bruder Hugo war bereits 1936 nach Buenos Aires geflohen. Mein Mann erhielt vor 2 Jahren einen Brief (den die Enkelin auf dem Dachboden eines früheren Nachbarn - hier etwas die Straße hinunter- gefunden hatte). In dem Brief schrieb Hugo 1966: „Ich lebe jetzt seit 30 Jahren hier in Buenos Aires, bin 54 Jahre alt und noch immer jede Nacht in Meinerzhagen. Ich kann meine alte Heimat nicht vergessen“. Diesen Brief sollten wir Yvonne geben, wenn sie zur Verlegung „ihrer“ Stolpersteine komme – und heute ist es nun soweit.

(Übergabe des Briefes an Yvonne)

 

Mehr zu den Schicksalen hinter den 5 Steinen hören Sie in den Kurzbiographien, die die SchülerInnen des Projektkurses aus den Unterlagen des Stadtarchivs erstellt haben.

Geschichte der STOLPERSTEINE in Meinerzhagen

Vor über 10 Jahren entbrannte nach einen Antrag der Grünen für das Projekt Stolpersteine die Diskussion, ob in Meinerzhagen nicht bereits genug Möglichkeiten des Gedenkens vorhanden seien und STOLPERSTEINE damit unnötig und sogar unerwünscht.

Das Ehepaar Stöver (heute auch zu Gast hier) schrieb dazu in einem Leserbrief in der MZ: „Stolpersteine wirken anders. Sie machen, inmitten des normalen Alltags, an 365 Tagen aufmerksam, was der Naziterror konkret bedeutet hat: es waren lebendige Menschen aus unserer Stadt.

Etwas später, am 13. März 2011, hielt unsere hoch-engagierte Stadtarchivarin Ira Zezulak-Hölzer einen VHS- Vortrag über das Leben der „Juden in Meinerzhagen“ , der dann die Steine endgültig „ins Rollen“ brachte. Durch akribische und hartnäckige Recherche hatte Frau Zezulak- Hölzer Fotos und Dokumente gesammelt und archiviert, die belegen, wie Juden seit ca. 1810 in Meinerzhagen lebten Sie waren keine zugezogenen Ausländer, sondern Fam. Stern kam aus der Nahe-Gegend, Fam. Rosenthal stammt aus Lieberhausen, Fam. Fischbach zog z.B. 1820 von Kreuztal nach Olpe und 1850 nach Meinerzhagen.

Viele der jüdischen Familien lebten zunächst in sehr ärmlichen Verhältnissen Bis ihnen ein gewisser gesellschaftlicher Aufstieg in den Mittelstand gelang und damit auch die Integration in die Meinerzhagener Gesellschaft: Integration bedeutete, dass Juden zur freiwilligen Feuerwehr gehörten, und mit der Zeit auch selbstverständlich zum Schützen -, Turn- und Gesangverein sowie zu den zahlreichen Nachbarschaften.

Erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann ihre systematische Ausgrenzung; zunächst durch Verunglimpfung und Erniedrigung, danach durch Berufs- und Verkaufsverbote, die ihnen jegliche Lebensgrundlage entzogen. Am Ende standen Verhaftungen, erzwungene Auswanderung und letztlich Deportation in die Konzentrationslager bis zur Ermordung.

Mit der Schilderung der Schicksale der Familien Fischbach, Stern, Rosenthal und anderer machte sie Geschichte erlebbar und gab ihr mehr als ein Gesicht. Besonders wichtig war ihr, die Mechanismen dieser Ausgrenzung begreifbar zu machen, da sie alles Weitere erst ermöglichten. (SEHR ANSCHAULICH macht Frau Zezulak-Hölzer dies auch IN DER AKTUELLE BROSCHÜRE: „ JÜDISCHE NACHBARN IM HEUTIGEN MÄRKISCHEN KREIS ca. 1235 – 2021, die im Gemeindehaus zum Mitnehmen ausliegt.

Gestatten sie mir an dieser Stelle noch eine Anmerkung zum Thema Ausgrenzung: Siebeginnt meist im Kleinen, etwa mit dem Wegschauen und Nicht-Grüßen bei einer Begegnung. Jemand im Geschäft, in der Kneipe oder auf einer Feier macht abfällige oder hämische Bemerkungen, äussert Pauschalurteile. - Wenn niemand widerspricht, kann der Eindruck entstehen: das ist dann wohl die Meinung aller und es besteht die Gefahr, dass nach und nach die eigene Meinung angepasst wird nach dem Motto: wenn alle das so sehen,dann wird ja wohl etwas dran sein. In solchen Situationen ist es wichtig, die eigene „Trägheit“ zu überwinden, zu widersprechen und sei es nur durch einen Satz wie: Da bin ich anderer Meinung/ Das sehe ich nicht so!

Die Zuhörer waren nach dem Vortrag jedenfalls so tief beeindruckt, dass sie in der anschließenden Diskussion beschlossen, eine Initiative für die Verlegung von Stolpersteinen zugründen; am 28.03. 2011 war die erste Versammlung der Initiative STOLPERSTEINE Meinerzhagen-Kierspe.

 

Unsere erste Verlegung fand am 26.Juni 2013 in der Hauptstraße 15 vor dem früheren Wohnhaus der Familie Rosenthal statt. Alle 15 noch lebenden Nachkommen von Walter Rosenthal waren aus Israel angereist. Tief bewegt haben mich die Worte eines Nachfahren: „Es ist wie ein Nachhausekommen; jetzt kann mein Vater endlich seinen Seelenfrieden finden. Jetzt ist er nicht mehr eine Nummer unter 6 Millionen Opfern. Mit seinem Namen erhält er seine Würde zurück. Er wird gesehen. Als Mensch mit seinem Einzelschicksal.“

Und genau das macht den Unterschied zu Mahnmalen und Gedenktafeln aus. Stolpersteine machen Daten der Geschichte persönlich und damit greifbar - begreifbar. Sie haben weniger den Tod im Blick, sondern holen die Opfer zurück in ihr Leben mitten unter uns, mit ihrer Geschichte, ihren Vorlieben und Begabungen, ihrem Beruf hier in ihrer Heimat, die sie in der Fremde oft ihr Leben lang nicht gefunden haben.

 

10 Jahre für 10 Verlegeorte

 

Bei unserer 2.Verlegungim Sommer 2014 wurden Steine vor 5 Häusern verlegt, die 3. fand im November 2014 statt. An ihr nahm das einzige Mal eine Überlebende Jüdin teil, Eve Lee, geboren als Eva Fischbach in Meinerzhagen und Tante von Steve Fischbach. Der Stein in der Derschlager Straße neben ihr ist für ihren Bruder Eugen, Steves Vater. Steve ist heute hier und hat den weiten Weg aus den USA auch zur bisher letzten Verlegung 2017auf sich genommen. Stellvertretend für die Familie seiner Großcousine Margot Fischbach-Bilinski teilzunehmen, die leider kurz vorher verstorben war. Auch Margots Vater und Eugens Vater waren Meinerzhagener Brüder, die zusammen einen Viehhandel betriebe.

 

Nun ist heute, im September 2021 – und damit 10 Jahre nach Gründung unserer Initiative die 5. und letzte Verlegung von Stolpersteinen, und ich muss gestehen: es ist uns nach wie vor unbegreiflich, wie diese kleinen Steine so große Ängste und Widerstände auslösen konnten.

Genauso unerwartet war für mich aber auch, dass fast alle Nachfahren unserer ehemaligen jüd. Mitbürger hierher kamen und wiederkommen, und uns ihre Ohren und Herzen öffneten. Die entstandenen Freundschaften sind Zeichen, dass Versöhnung zwischen den Generationen selbst nach solchen Greueltaten möglich ist. Ein Geschenk von unschätzbarem Wert.

 

Was die Nachfahren und unsere junge Generation zum heutigen Anlass denken, werden sie gleich selbst ausführen..

 

Vorher übergebe ich das Wort an unseren Bürgermeister, Jan Nesselrath.

 

 

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