(2013-05-27)
Vor 75 Jahren Flucht aus Meinerzhagen
nach Recherche von Ira Zezulak-Hölzer (Stadtarchiv Meinerzhagen)
Vor 75 Jahren, am 27. Mai 1938, floh das Ehepaar David und Erna Borenstein, geborene Rosenthal, geschiedene Becker, aus Meinerzhagen nach Buenos Aires in Argentinien. Beide retteten so ihr Leben. Zwei Jahre zuvor war bereits Rudi Becker dorthin geflohen, Erna Borensteins Sohn aus erster Ehe. Wer war diese zweite Meinerzhagener Familie, die nach der Familie Oskar Fischbach aus der Lindenstraße 14 in diesem Jahr 1938 aus Meinerzhagen floh?
Erna wurde am 31.05.1894 als jüngstes Kind der Eheleute Löser und Goldine Rosenthal, geborene Stein, in Meinerzhagen geboren. Sie wurde Köchin. 1913 heiratete sie den evangelischen Marinesoldaten Adolf Becker, der wegen seiner Eheschließung mit einer jüdischen Frau dann aus der evangelischen Kirche austrat. 1914 wurde Sohn Rudolf geboren. Die Ehe scheiterte und wurde 1921 geschieden. Erna Becker heiratete 1922 David Borenstein. Erna Borenstein verstarb am 24.02.1971 und ruht auf dem Jüdischen Friedhof in Buenos Aires.
David Borenstein wurde am 30.12.1888 in Kazimiersk, Kreis Pulawy, im Bezirk Lublin geboren. Dies lag in dieser Zeit im von Russland anektierten Teil Polens. Zweieinhalb Jahre nach der Neugründung Polens 1918 reiste er ohne Ausweispapiere nach Deutschland ein und zog am 01.06.1921 nach Meinerzhagen. Hier machte er sich im Juli 1921 als Anstreicher selbständig. Nach der Heirat mit Erna Becker, geborene Rosenthal, beantragte David Borenstein die deutsche Staatsangehörigkeit. Sein Antrag wurde trotz Unterstützung durch die amtlichen Stellen in Meinerzhagen, die ihn als fleißigen Arbeiter beschrieben, vom Regierungspräsidenten Arnsberg abgelehnt. Die Meldekarte gibt als Staatsangehörigkeit bis zu seiner Flucht 1938 polnisch an. Bis zum Boykott der jüdischen Geschäfte 1933 ist Borenstein offensichtlich so erfolgreich gewesen, dass er das Haus Kirchstraße 22/24 von den Erben Abraham Sterns, der bis zu seinem Tode 1925 hier gewohnt hatte, erwerben konnte.
David (David Josef) Borenstein verstarb am 07.03.1951 und ruht auf dem Jüdischen Friedhof in Buenos Aires.
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Erna Borenstein hinten auf dem Motorrad, links davon Johanne Rosenthal
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Kirchstraße 22
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Sohn bzw. Stiefsohn Rudi Becker absolvierte nach dem Besuch der Volksschule und der Meinerzhagener Selekta, einer Vorläuferin der Realschule, von 1928 bis 1931 eine Anstreicherlehre in Soest. Nach Ablegung der Gesellenprüfung lebte er wieder bei seinen Eltern in der Kirchstraße 22 und war bei seinem Stiefvater als Geselle tätig. Als dieser ab 1933 durch den Boykott jüdischer Geschäfte keine Aufträge mehr erhielt, konnte auch Rudi Becker nicht mehr in seinem Beruf arbeiten. Berufsfremd arbeitete er noch bis 1935 als Fabrikarbeiter. Dann folgte Arbeitslosigkeit bis zu seiner Flucht am 16.03.1936. Gemeinsam mit Hugo Stern, Sohn von Nathan Stern, Zum Alten Teich 2, floh Rudi nach Buenos Aires.
Rudi (Rudolf) Becker verstarb am 07.05.1978 und ruht auf dem Jüdischen Friedhof in Buenos Aires.
Zur Finanzierung ihrer Flucht 1938 verkauften David und Erna Borenstein ihr Haus in der Kirchstraße. Die mit ihnen im Haus lebende taubstumme ältere Schwester von Erna, Johanne Rosenthal, geboren am 15.02.1884 in Meinerzhagen, ausgebildete Damenschneiderin, hatte so keine Bleibe mehr und ging am 01.06.1938 in das Israelitische Altersheim Unna. Am 28.07.1942 wurden 61 Heimbewohner über Dortmund nach Theresienstadt deportiert. Unter ihnen war auch Johanne Rosenthal. Der Transport ging mit 968 Menschen am 29.07.1942 ab Dortmund. Dies war die dritte Deportation aus dem Regierungsbezirk Arnsberg.
Neben Johanne Rosenthal befanden sich im Zug drei weitere Frauen aus Meinerzhagen, die zuvor in Werlsiepen gettoisiert und von dort am 27.07.1942 deportiert wurden:
Paula Brandes, geboren am 21.07.1876, Hauptstraße 15
Paula Stern, geborene Emanuel, geboren am 25.06.1884, Hauptstr. 32
Paula Stern, geboren am 16.05.1877, Zum Alten Teich 2
Am 23.01.1943 wurde Johanne Rosenthal von Theresienstadt in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Im Haus Kirchstraße 22 lebte ferner Pauline Stern, geborene Oppenheimer, geboren am 30.04.1882 in Gedern, Kreis Schotten, Hessen. Sie war die Witwe des am 17.09.1932 in Meinerzhagen verstorbenen Max (Meyer) Stern, geboren am 07.12.1865 in Meinerzhagen. Hier war er unter dem Namen „Därme-Meyer“ bekannt, da er mit Därmen usw. handelte. Bis zu ihrer Gettoisierung am 26.09.1941 in Werlsiepen verblieb Pauline Stern im Haus Kirchstr. 22. Von dort wurde sie am 28.04.1942 zusammen mit sieben weiteren jüdischen Meinerzhagenern über Dortmund nach Zamocz deportiert. Diese Deportation war die zweite aus dem Regierungsbezirk Arnsberg. Von den 791 am 30.04.1942 vom Dortmunder Südbahnhof nach Zamocz abtransportierten Menschen kehrte niemand zurück. Alle wurden ermordet, auch Pauline Stern und die übrigen Meinerzhagener.
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Rudi Becker
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von links David Borenstein, Erna Borenstein Goldine Rosenthal, Johanne Rosenthal, Rudi Becker
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Der Initiator des Projekts STOLPERSTEINE, der Künstler Gunter Demnig, wird im Auftrag der Initiative Stolpersteine Meinerzhagen am Mittwoch, dem 26.06.2013, ab 14.30 Uhr die ersten 17 von insgesamt 47 geplanten Stolpersteinen an vier von insgesamt zehn geplanten Stellen verlegen. Dies geschieht in einem ersten Schritt dort, wo die Grundstückseigentümer bzw. -anlieger bereits jetzt ihre Zustimmung zu dieser Form des Gedenkens und Erinnerns an die Opfer des Nationalsozialismus gegeben haben. So auch vor der Gebäudeseite zur Kirchstraße hin vor dem Haus Kirchstraße 22. Hier werden fünf Stolpersteine für die oben beschriebenen Opfer mit den nachstehenden Texten verlegt:
HIER WOHNTE DAVID BORENSTEIN JG. 1888 FLUCHT 1938 ARGENTINIEN ÜBERLEBT
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HIER WOHNTE ERNA BORENSTEIN GEB. ROSENTHAL GESCH. BECKER JG. 1894 FLUCHT 1938 ARGENTINIEN ÜBERLEBT
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HIER WOHNTE RUDI BECKER JG. 1914 FLUCHT 1936 ARGENTINIEN ÜBERLEBT
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HIER WOHNTE JOHANNA ROSENTHAL JG. 1884 DEPORTIERT 1942 AB UNNA THERESIENSTADT ERMORDET IN AUSCHWITZ
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HIER WOHNTE PAULINE STERN GEB. OPPENHEIMER JG. 1882 DEPORTIERT 1942 ZAMOSC ERMORDET
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Die Stolpersteinverlegung beginnt um 14.30 Uhr vor dem Haus Hauptstraße 15, gegenüber von Foto-Video-Fotostudio Heyder bzw. Pollmanns Eck. Dann schließen sich die Verlegeorte Teichstraße 10, Hauptstraße 31 und Kirchstraße 22 an. Die Veranstaltungen sind öffentlich und jeder ist dazu herzlich eingeladen.
Von der Initiative Stolpersteine Meinerzhagen und der Stadt Meinerzhagen wurden auch die Nachkommen der Opfer eingeladen, so auch Gabriel Becker, der 1947 in Argentinien geborene Sohn von Rudi Becker. Hier seine in englischer Sprache geschriebene Antwort ins Deutsche übersetzt:
„Lieber Herbert Langenohl,
vor einigen Wochen habe ich den Brief von Ihnen und Herrn Erhard Pierlings erhalten. Es war sehr bewegend für mich, von Ihrem Projekt zu erfahren und darin einbezogen zu sein.
Ich möchte sagen, dass ich Dankbarkeit und Anerkennung empfinde für die Mentoren, Sponsoren und alle anderen, denen das Gedenken an all unsere aufgeführten früheren Nachbarn eine Herzensangelegenheit ist.
Das lässt meinen Vater, meine Großmutter und ihren Ehemann, ihre Verwandten und Freunde aus jener Zeit angemessener ihren verdienten Frieden finden.
Ich freue mich ebenfalls über die Einladung zu Ihnen Ende Juni, aber leider ist es mir wegen beruflicher Verpflichtungen nicht möglich, ihr zu folgen.
Gabriel Becker
Im Namen meiner verstorbenen Angehörigen
Rudi Becker
Erna Borenstein, geborene Rosenthal
David Borenstein
Sowie der Verwandten, Freunde und Nachbarn meiner verstorbenen Angehörigen (deren Namen mir aus Kindertagen vertraut sind, als ich „Heimat“-Geschichten und Erinnerungen lauschte)"