Flucht von Meinerzhagen nach Shanghai – ein jüdisches Schicksal
Bericht von Yvonne (Heumann) Daniel, eingeleitet und übersetzt von der Initiative Stolpersteine im Heimatverein Meinerzhagen
Auch jüdisches Leben gehörte zu Meinerzhagen – bevor es die Terrorherrschaft im „Dritten Reich“ auslöschte. Das wurde in den vergangenen Jahren auch im Meinhardus, vor allem in den Sonderheften über die Stolpersteine, schon intensiv dokumentiert. Gerade von den Nachkommen der einst hier wohnhaften jüdischen Familien – das wissen wir aus zahlreichen bewegenden Rückmeldungen – sind diese Hefte des Meinhardus dankbar aufgenommen worden. Die jüngsten Stolpersteine, die an die jüdischen Opfer dieser Zeit erinnern, konnten übrigens unter großer Anteilnahme der Bevölkerung am 6. Juli 2017 vor dem „Fischbach-Haus“ in der Lindenstraße 14 für die Familie von Oskar Fischbach verlegt werden (mehr unter www.stolpersteine-meinerzhagen.de).
Am 9. November nun jährte sich zum neunundsiebzigsten Mal das „Novemberpogrom“ gegen die Juden in Deutschland; zum Gedenken daran hatte die Initiative an den Stolper-steinen Kerzen entzündet. In Meinerzhagen fand die von der nationalsozialistischen Propaganda so genannte „Reichskristallnacht“ allerdings verspätet statt: Während noch in der Nacht des 9. November überall im Lande Synagogen brannten, jüdische Geschäfte zerstört und geplündert, Wohnungen verwüstet und die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger auf die Straße gezerrt, misshandelt, verhaftet, in die „Schutzhaft“ der Konzen-trationslager verbracht oder sogar getötet wurden, ergoss sich dieser brutale Terror über unsere Heimatstadt erst am frühen Vormittag des 10. November, angeleitet von einem polizeilichen Tagesbefehl aus Dortmund.
Nach diesem Ereignis versuchten viele der verbliebenen Juden verzweifelt Deutschland zu verlassen – eine von den Nationalsozialisten erwünschte und durch weiteren Druck forcierte Folge dieses physischen und psychischen Terrors. Ihnen wurde die Ausreise „nahegelegt“ mit Hinweis auf das, was am 9./10. November geschehen war und sonst noch geschehen würde. Von den jüdischen Familien, die zu diesem Zeitpunkt noch in Meinerzhagen lebten, wurden die Familienväter direkt nach ihrer Entlassung aus dem Konzentrationslager ins Amtshaus einbestellt, wo sie unterschreiben mussten, nun unverzüglich ihre „Auswanderung“ vorzubereiten.
Zu denen, die in jenen Jahren vor Verfolgung und unmenschlichem Druck aus unserer Heimatstadt flohen, gehörte auch die Familie von Nathan Stern, damals wohnhaft Zum alten Teich 2. (Das Haus ist inzwischen durch einen Neubau ersetzt). Durch die Ereignisse der „Reichskristallnacht“ wurden auch die Sterns endgültig aus jenem Zusammenleben gerissen, in dem sie – Meinerzhagener seit zwei Generationen – in Stadt und Nachbarschaft so fest verwurzelt waren. Die Geschichte der Familie Nathan Stern ist in einer sehr lesenswerten Dokumentation geschildert, die am 14.4. und 16.4.2016 in der Meinerzhagener Zeitung erschien.
Nun sahen sie als letzte Möglichkeit nur die Flucht. Nach dem Sohn Hugo (1936, nach Buenos Aires), und noch vor den Eltern Nathan und Rosa Stern (1940, Buenos Aires), verließ auch die Tochter Hedwig Stern ihr Elternhaus, Meinerzhagen und Deutschland, um der unerträglichen Lage zu entkommen.
Hedwig (genannt „Hetti“) Stern, geb. 1913, heiratete am 2. Januar 1939 in Meinerzhagen Hermann Heumann aus Köln, zog noch am selben Tag dorthin, und so schnell sie konnten begaben sich die beiden frisch Vermählten auf die Schiffspassage nach Shanghai – auf „Hochzeitsreise“ in eine ferne und gänzlich unbekannte Stadt, die 1939 noch bereit war Juden aufzunehmen.
Sie verließen ihre Heimat, um das blanke Leben zu retten – denn mehr mitzunehmen als was sie in ihren Koffern tragen konnten, war Juden bei der „Ausreise“, solange sie denn noch möglich war, nicht mehr erlaubt.
Dort in Shanghai, auf der Flucht, kamen 1942 Hettis und Hermanns Kinder zur Welt: Peter 1942 (gestorben kurz nach seinem ersten Geburtstag an Mangelernährung) und schließlich 1944 Yvonne.
Yvonne Heumann, Enkelin von Rosa und Nathan Stern, lebt heute mit ihrem Mann Rene Daniel in Maryland (USA). Erst vor kurzem hat sie die Umstände über die Flucht ihrer Eltern, ihre Geburt und das Leben der Geflüchteten in Shanghai zu Papier gebracht. Diesen biographischen Bericht, ihre „Shanghai Story“, hat sie 2016 an die Initiative Stolpersteine Meinerzhagen/Kierspe geschickt – mit der Bitte, ihn vielen Menschen hier zugänglich zu machen, und in der Hoffnung, dass auch vor dem ehemaligen Haus ihrer Großeltern – Zum alten Teich 2 – bald Stolpersteine zum Gedenken an ihre Mutter und den Rest der Familie verlegt werden mögen.
Dafür würde Yvonne (Heumann) Daniel sogar selbst nach Meinerzhagen reisen.
Hier ihre bewegende Geschichte, die in Meinerzhagen beginnt und im Flüchtlingsghetto in Shanghai endet; übersetzt von Dietmar Först, Dorothea Menzel und Oliver Schulz.
My Shanghai Story –
Meine Shanghai-Geschichte
von Yvonne (Heumann) Daniel
Die Geschichte, die Sie jetzt lesen, ist ein nur wenig bekannter Ausschnitt aus der Geschichte des Holocaust. Das Interessanteste an meiner Biographie, so fand ich immer, ist mein Geburtsort. Ich bin geboren in Shanghai, China.
Wie kommt es, dass ich an so einem ungewöhnlichen Ort geboren wurde, und wie lebte man dort als Jude, in Shanghai im Jahre 1944?
Unglücklicherweise war, als ich ein tieferes Interesse an den Umständen meiner Geburt entwickelte, niemand in meiner direkten Verwandtschaft mehr am Leben, den ich nach Einzelheiten hätte fragen können. Stattdessen musste ich mich stützen auf Fotos, auf Dokumente, die meine Eltern hinterlassen hatten, auf jüngst erschienene Bücher von Menschen, die dort waren, und auf Filmdokumentationen zu diesem Thema.
Und seit April 2006 habe ich nun meine eigenen Eindrücke und Erfahrungen von einer Reise, die mich in meine „Heimatstadt“ zurückführte – dazu später mehr.
Meine Eltern, beide geboren in Deutschland, heirateten im Januar 1939. Der Nazi-Terror, der schon 1933 begann, gipfelte am 10. November 1938 in der Zerstörungswut der „Kristallnacht“, jenem Pogrom, das Hunderte jüdischer Geschäfte, Synagogen und Häuser traf. Die „Reichskristallnacht“ zertrümmerte weit mehr als die Scheiben der jüdischen Bevöl-kerung in Deutschland – sie zerschmetterte ihre tief verwurzelten Illusionen von Sicherheit und Zugehörigkeit zu diesem Land.
Als die Verfolgung der Juden dramatisch voranschritt, begriffen meine Eltern, dass es Zeit war die Flucht zu ergreifen. Meine Mutter erzählte mir immer, ihre Hochzeitsreise sei eine Schiffsfahrt nach China gewesen, und so nehme ich an, dass sie Deutschland gleich nach ihrer Heirat verließen. Bei der Ausreise durfte jeder zwei Koffer mitnehmen und zehn Mark – damals etwa 7 € ! Von Genua aus erreichten sie auf der „Conte Biancamano“ Shanghai – eine Reise von einem vollen Monat, wie ich den Erzählungen entnehme.
Bis Ende Juni 1939 waren in weniger als sieben Monaten beinahe 10.000 Flüchtlinge aus Europa nach Shanghai entkommen, und Tausende weitere folgten. Am Ende waren es fast 20.000 Menschen, die nach Shanghai kamen – eine Stadt mit einem Freihafen, wo keine Einreisepapiere verlangt wurden – ,denn kein anderer Ort in der Welt wollte sie aufnehmen!
Können Sie sich vorstellen, wie diese Europäer sich umstellen mussten, nachdem sie in einem so fremden Land mit einer völlig fremden Sprache gelandet waren? Diese Immigranten waren weder vorbereitet auf das Klima, noch auf die gesundheitlichen, wirtschaftlichen, sozialen oder sprachlichen Herausforderungen. Sie landeten ohne passende Kleidung für die heißen, schwülen Sommer, die eiskalten Winter, und die Regenzeit dazwischen. Klima, Sitten, Kleidung – nichts war auch nur entfernt vertraut. Ungeahnte Entbehrungen standen diesen Flüchtlingen bevor. Besonders erschreckten die Europäer die Rikschas, kleine Karren, gezogen von schwitzenden, halb nackten Chinesen, die ein verbreitetes Transportmittel darstellten.
Aber irgendwie schafften sie es nicht nur zu überleben, sondern sich einzurichten in diesem fremden Land. Nicht alle – einigen gelang es einfach nicht sich anzupassen. Am Ende aber schufen sie ein kleines Europa inmitten von Asien!
Ein wenig Hilfe dabei erfuhren sie von der örtlichen, und der amerikanischen jüdischen Gemeinde. Vor allem aber waren es harte Arbeit, Einfallsreichtum und Fantasie, die funktionierende Institutionen und eine neue Gemeinschaft entstehen ließen, und die ein Gefühl der Zusammengehörigkeit formten in dieser vorher so verschiedenartigen Menge von Individuen aus Europa.
Eine selbst verwaltete Jüdische Gemeinde („Jewish Community Association“) wurde gebildet, um sich um die religiösen Belange von orthodoxen, konservativen, und liberalen Juden zu kümmern und um die Grundlagen für eine jüdische Schulbildung und Recht-sprechung.
Jüdische Jugendgruppen wurden gegründet, Wiener Caféhäuser eröffnet, drei deutschsprachige Tageszeitungen erschienen, es gab Auftritte eines Shanghaier Symphonieorchesters und Buchläden mit englischer, französischer und deutscher Literatur, Theater- und Opernvorführungen und Sportmannschaften. Schulen für alle Altersstufen nahmen ihren Betrieb auf, und dort bildeten sich Freundschaften fürs Leben. Das durfte ich bei meinem außergewöhnlichen Wiedersehen mit Shanghai selbst noch einmal erfahren.
Ganze Häuserblocks wurden umgebaut und es entstanden blühende Geschäfte – Metzgereien, Drogerien, Uhrmacher, Restaurants, Kurzwaren, ein Kino. Einige Flüchtlinge mit Unternehmergeist bauten ein Geschäftsmodell darauf, dass andere, weil sie Bargeld benötigten, bereit waren, sich von den wenigen Haushaltsartikeln oder Wertgegenständen zu trennen, die sie aus Europa mitgebracht hatten: in ihren Second Hand Shops zahlten sie Bares für das, was diese Flüchtlinge nun nicht mehr behalten konnten. Der Laden meines Vaters, den er mit meinem Onkel Max betrieb, war ein solches Geschäft, auch wenn auf dem Schaufenster nur stand: „Schokolade, Zigarren, Zigaretten.“
Als am 7. Dezember 1941 die Japaner Pearl Harbor bombardierten, befanden sich die jüdischen Flüchtlinge, die dem Krieg in Europa entkommen waren, plötzlich in einer doppelten Falle, da Japan mit Deutschland verbündet war. Sie fürchteten erneute Verfolgung, aber nach der Einnahme von Shanghai taten die Japaner den Juden nichts an, sie gewährten ihnen vielmehr Asyl in Hongkou, einem Stadtbezirk innerhalb des von ihnen kontrollierten Gebietes.
Vor dem Frühjahr 1943 konnten die Geflüchteten leben, wo sie wollten, entsprechend ihren finanziellen Möglichkeiten, und vielen gelang es, ihre früheren Berufe, z.B. als Ärzte, Zahnärzte usw., wieder auszuüben.
1943 errichteten die Japaner ein Ghetto. Damit änderte sich alles. Dieses Ghetto entsprach jedoch nicht unserer Vorstellung von einem Ghetto. Es gab keine Schlagbäume oder Stachel-draht. Alle Juden mussten sich in den Sektor Hongkou begeben, wo auf einem Areal von weniger als einer ¾ Quadratmeile (ca. 1.9 km2) mehr als 16.000 Flüchtlinge untergebracht wurden, zusätzlich zu den 100.000 Chinesen, die dort schon wohnten. Eine Genehmigung war erforderlich, um diesen Teil der Stadt verlassen zu können. Dieses Ghettoareal existiert heute noch, und der Besuch dort war der Höhepunkt meiner Erinnerungsreise.
Wie Sie sich vorstellen können, waren die Lebensbedingungen furchtbar, denn es gab immer weniger Brennmaterial und Lebensmittel. Die Häuser hatten etwa 10 Räume, von denen einige nur 8x8 Fuß (ca. 2,4 m2) groß waren. Ganze Familien wohnten in einem einzigen Raum und teilten sich mit mehreren Familien die primitiven Gemeinschaftseinrichtungen. Die Wände waren dünn wie Papier.
Nur wenige Häuser hatten Toiletten. In der Nähe der Hauseingänge befand sich ein Eimer mit einem Sitz. Jeden Morgen ging ein Kuli mit einem Handkarren von Tür zu Tür und leerte diese „Honig-Eimer“, wie man sie scherzhaft nannte. Diese Häuser waren alle untereinander verbunden durch ein Netz enger Gassen oder Durchgänge, wo die Kinder spielten.
Die Wasserversorgung bestand oft aus ungeklärtem Abwasser. Die „drei H“ – „hunger, heat, humidity“(Hunger, Hitze, Feuchtigkeit) – bedrohten und töteten viele Menschen. In einem einzigen Augustmonat starben 31 Menschen an den Folgen der Hitze. Die Umwelt-bedingungen und die sanitären Verhältnisse waren dürftig, die Lebensmittelversorgung völlig unzureichend.
Ungünstige klimatische Bedingungen in Verbindung mit der schwachen körperlichen Verfassung vieler Flüchtlinge versetzten in eine ständige Angst vor einer der vielen ansteckenden Krankheiten, die in der Stadt verbreitet waren. Die alltäglichsten waren Durchfall, Typhus, Beriberi, Cholera und viele Wurmerkrankungen. Das Brot wurde immer ganz dünn geschnitten, um Würmer leichter entdecken zu können. Es war schon erstaunlich, dass nur wenige Epidemien ausbrachen. Und dies ist einem Stab von unermüdlichen Flüchtlings-Ärzten und -Krankenschwestern zu verdanken.
Hierzu eine persönliche Bemerkung: Ich hatte einen Bruder, Peter. Er wurde im August 1942 geboren und starb im September 1943. Die Todesursache, so sagte man mir, war Mangel-ernährung. Sein Grab existiert nicht mehr. Drei Friedhöfe mit solchen Flüchtlingsgräbern wurden während der Kulturrevolution eingeebnet. Auf solchem Gelände errichtete man dann Fabrikgebäude. Es gibt fortlaufende Bemühungen, die Grabsteine dieser Friedhöfe ausfindig zu machen. Offensichtlich wurden sie überall in der Stadt als Trittsteine und Baumaterial genutzt. Bei der Suche hält man Ausschau nach hebräischen Schriftzeichen oder einem „Magen David“ (Davidstern). Später mehr zu diesen Bemühungen.
Früher hatte ich mir nicht klar gemacht, dass in Shanghai geboren zu sein fast als ein Wunder angesehen wurde. Anscheinend senkten Abtreibungen, von Ärzten durchgeführt, deutlich die Zahl der Entbindungen – durchschnittlich zwei pro Woche. Schwangerschaft, Entbindung, der Versuch, ein Kind aufzuziehen – dies war viel zu riskant. Obwohl meine Eltern meinen Bruder verloren hatten, beschlossen sie, es noch einmal zu versuchen!
In Shanghai zu leben, schützte die Flüchtlinge nicht völlig vor dem Krieg. Das ganze Jahr 1944 hindurch (besonders im Sommer und Herbst) war Shanghai ein sekundäres Ziel für amerikanische Bombenflugzeuge. Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang wurde Verdun-kelung angeordnet. Ich selbst wurde bei einem dieser Luftangriffe geboren und kam beim Licht einer Taschenlampe zur Welt.
Die Zeit, die sie in Shanghai verbrachten, wird von vielen Flüchtlingen als eine Art Wunder betrachtet. Trotz der entsetzlichen Lebensbedingungen – Hitze, Dreck, Krankheit, Hunger: sie wurden in Ruhe gelassen. Niemand verfolgte sie, niemand hatte es darauf abgesehen, sie zu vernichten. Die Flüchtlinge waren nach China gekommen, weil es in der ganzen Welt keinen anderen Ort gab, an dem sie aufgenommen worden wären. Nach dem Krieg hatte sich nicht viel verändert. Nachdem sie fast zehn Jahre Krieg, Armut, Isolation überlebt hatten, wurden die Flüchtlinge wieder mit Kontingenten, Einwanderungsbeschränkungen und Diskri-minierung konfrontiert.
Als der Krieg zu Ende war, wollten meine Eltern ebenso wie Tausende andere dringend China verlassen. Die Vereinigten Staaten waren für viele das Ziel ihrer Wahl, so auch für meine Familie. Andere gingen nach Kanada, Australien und in den neuen Staat Israel. Wir erhielten unsere Ausreisegenehmigung am 24. Februar 1947. Nach dreimonatiger Reise (mit einem Zwischenhalt in Honolulu) erreichten wir am 16. Mai 1947 San Francisco.
Ich habe erfahren, dass es eine große Gemeinschaft von „Shanghailändern“ in Kalifornien gibt, weil diese hier zuerst amerikanischen Boden betreten haben. Wenn sie keinen Grund hatten weiterzuziehen, ließen sich viele gleich hier nieder. Wir hingegen hatten meinen Onkel Willy (den einzigen Überlebenden von den Geschwistern meines Vaters), der in New York lebte. So durchquerten wir das Land.
Wir zogen im Juli 1948 in die Wohnung, in der ich dann aufwuchs, im Stadtteil Washington Heights, einer Gegend voller deutsch-jüdischer Einwanderer, auch der Familie meines Ehemannes.
Das letzte Wort zu diesen Jahren in Shanghai ist – trotz Not, Krankheit, Schmutz und Ent-behrungen – „Paradies“. Die Flüchtlinge erkannten, besonders als nach Kriegsende die Schreckensnachrichten aus ihrer Heimat zu ihnen gelangten, dass sie im Paradies gelebt hatten, ein Wort, das von vielen „Shanghailändern“ selbst benutzt wurde.
Wiedersehen mit Shanghai
Jetzt möchte ich über die Rückkehr an meinen Geburtsort sprechen. Im April 2006 fuhren mein Ehemann und ich nach Shanghai. Diese Reise war in gewisser Weise einzigartig. Sie wurde „Rikschatreffen“ (“Rickshaw Reunion”) genannt. Die meisten der Mitreisenden, die zum Teil mit ihren Ehepartnern, Kindern und Enkelkindern reisten, hatten im Zweiten Welt-krieg in Shanghai gelebt.
Neun, darunter ich, wurden dort geboren. Wir stammten aus verschiedenen Teilen der Welt und waren unterschiedlich alt: Der jüngste Teilnehmer war 15 und der älteste 95!
Viele hatten noch sehr lebendige Erinnerungen an ihr Leben im Ghetto, während andere, die – wie ich – zu jung waren, um direkte Erinnerungen zu haben, nur über Fotos und Geschichten verfügten. Das war etwas, das uns alle einte. Die Jahre, in denen wir mit unseren Familien in Shanghai lebten, waren zwar hart und zuweilen zum Verzweifeln, aber sie waren auch Jahre, die unser Überleben möglich machten. Wir wurden von unseren chinesischen Nachbarn menschlich und oft gütig behandelt. Mit dieser Erinnerung kehrten 109 von uns nach Shanghai zu diesem Treffen zurück.
Es war eine Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte: Mit anderen dorthin zurückzukehren, die dieselbe Erfahrungen mit mir teilten. Als wir uns trafen, bestand da sofort eine Verbindung zwischen uns, die wir alle diesen einzigartigen Teil in unserem Leben teilten.
Unsere Reise begann mit dem Besuch des Zentrums für jüdische Studien in Shanghai, das 1988 gegründet wurde und von Pan Guang geleitet wird, einem Mann mit ausgeprägtem Interesse, Verständnis und Respekt für das jüdische Volk. Bei dem von ihm geleiteten Zentrum handelt es sich um die einflussreichste Forschungseinrichtung in China, die sich mit dem Judentum und Israel beschäftigt. Als wir dort ankamen, wurden wir mit diesen Worten empfangen: „Wir heißen Sie in Ihrer früheren Heimat willkommen. Wir behalten Sie für immer in Erinnerung und werden Sie immer willkommen heißen. Dies ist sowohl Ihr als auch unser Zuhause.“
Ich möchte hier ebenfalls erwähnen, dass unser Besuch ein großes Medienereignis war. Wir wurden auf Schritt und Tritt von Gruppen von Reportern und Kameraleuten begleitet und die meisten von uns wurden auch einzeln interviewt. Berichte über unser Treffen erschienen in den lokalen chinesischen und englischsprachigen Zeitungen und sogar in der „Jerusalem Post“.
An unserem Willkommensdinner in Shanghai nahmen chinesische Offizielle und der Rabbiner Shlomo Greenberg teil. Als Zeichen des Willkommens erhielten wir zwei große, kalligraphisch gestaltete Spruchbänder, auf denen geschrieben stand: „Shanghai ist für immer Ihre Heimat“ und „Lang lebe die chinesisch-jüdische Freundschaft“.
Allerdings sollte der nächste Tag der Höhepunkt unserer Reise sein: an diesem Tag sollten wir nach Hongkou fahren, wo sich der Ghettobezirk befunden hatte, in dem wir gelebt hatten.
Wir gingen als Gruppe zum „Wayside Park“, in dem sich ein Denkmal aus Granitstein mit Inschriften in englischer, chinesischer und hebräischer Sprache befindet. Dort steht unter anderem: „Tausende von Juden kamen auf Ihrer Flucht vor der Verfolgung durch die Nazis nach Shanghai. Die japanischen Besatzungsbehörden betrachteten sie als ‚staatenlose Flüchtlinge’ und wiesen ihnen diesen Bezirk zu, um ihre Niederlassungsfreiheit und Erwerbsmöglichkeiten zu beschränken.“
Als wir uns dem Denkmal näherten, wurde die Musik aus “Schindlers Liste” gespielt, und – ich brauche das wohl nicht zu erwähnen – wir waren alle überwältigt. Hinzu kamen noch die älteren Chinesen, die immer noch in dieser Gegend wohnen und die um das Denkmal herum standen. Sie lächelten und nickten, als wollten sie sagen, dass sie uns nicht vergessen haben und uns wieder willkommen heißen. Es war ein unglaublicher Augenblick.
Als wir im Park waren, lag dort auf mehreren Tischen ausgebreitet ein Banner, auf dem wir alle unterschreiben sollten. Es sollte als Petition an die UNESCO benutzt werden, um zu versuchen, im Rahmen der geplanten Stadterneuerung von Shanghai den Hongkou-Bezirk als historisch bedeutenden Ort zu erhalten und einem entsprechenden Zweck zuzuführen.
Von dem Park aus gingen wir zur „Ohel Moshe Shul“, die im Jahr 1927 gebaut worden war. Dort trafen wir den israelischen Journalisten und Reiseführer Dvir Bar-Gal, der sich gerade darum bemüht, Grabsteine von drei zerstörten und nicht länger existierenden jüdischen Friedhöfen ausfindig zu machen. Zum Zeitpunkt unseres Besuchs hatte er 85 Grabsteine gefunden, nachdem er fünf Jahre zuvor mit seinen Nachforschungen begonnen hatte. Er würde gerne eine Gedenkstätte errichten, die diesen Teil der jüdischen Geschichte in Shanghai bewahren, dokumentieren und zurückbringen soll. Ich persönlich hoffe, dass er den Grabstein meines Bruders Peter Heumann finden wird.
In der „Shul“ befindet sich nun das „Shanghai Jewish Refugees Museum“, das sich mit der Geschichte der jüdischen Flüchtlinge in Shanghai befasst.
Während wir im Ghettobezirk waren, gingen viele von uns, die damals schon alt genug gewesen waren, um Erinnerungen an ihr Leben in Shanghai zu haben, zu den Häusern, in denen sie damals gelebt hatten und die zum Teil heute noch bewohnt werden. Ein Mann aus der Reisegruppe erkannte sogar einige Möbel seiner Familie wieder, die heute immer noch benutzt werden. An vielen Türen waren die Umrisse der Mesusot, die dort einst angebracht gewesen waren, noch zu erkennen. In meinem Haus befindet sich heute leider ein Elektrogeschäft. Das Geschäft meines Vaters befindet sich in einer Straße, in der alle Häuser abgerissen werden sollen.
Einige hatten vorab alles organisiert, um Freitagabend den Sabbat zu feiern und in der örtlichen „Chabad Shul“ zu Abend zu essen, die von Rabbi Greenberg geleitet wird, der ursprünglich aus Brooklyn, NY, stammt. Mehr als 100 Personen nahmen an dieser Zeremonie in der Tradition der Chabad-Lubawitsch teil. Es waren einige Einwohner aus Shanghai, Geschäftsleute, eine Gruppe aus Israel und sogar einige junge Frauen darunter. Die Frauen saßen hinter einer Trennwand (Mechitza), und auch wenn der sephardische Gottesdienst etwas ungewohnt war, genossen wir alle ein reichhaltiges und koscheres Sabbatessen, und der Abend wurde zu einer ziemlich außergewöhnlichen Erfahrung.
Das „Shanghai Jewish Center”, das im Juni 2006 (d.h. nach unserem Besuch) eingeweiht wurde, verfügt über eine Synagoge, eine hebräische Schule, einen Kindergarten und eine Vorschule. Dort werden täglich Gottesdienste abgehalten, und am Sabbat wird koscheres Essen serviert. In Shanghai besteht eine neue jüdische Gemeinde, die vor allem von amerikanischen, europäischen und israelischen Organisationen und Geschäftsleuten gegründet wurde. So wie ich es verstanden habe, scheint das Gemeindeleben zu florieren.
Im Oktober 2014 hatte ich erneut die Gelegenheit, meine „Heimatstadt“ und das „Shanghai Jewish Refugee Museum“ zu besuchen. Während dieses Besuchs übergab ich dem Museum das Original meiner Geburtsurkunde sowie den Totenschein meines Bruders und ein Foto von seinem Grab und dem Grabstein. Die Übergabe wurde gefilmt und ich fühle mich jetzt, als wäre ich ein wirklicher Teil dieses Museums. Dort war auch außerhalb des Museums kurz zuvor eine Mauer errichtet worden, auf der in Bronze die Namen der jüdischen Flüchtlinge eingraviert sind, die in Shanghai gelebt hatten. Ich fand meinen Namen sowie die meiner Eltern, meines Onkels und meines Bruders. Es war ein sehr berührender Moment.
Ich denke, ich sollte auch ein paar Dinge über die Stadt Shanghai sagen. Es handelt sich um eine überbevölkerte Stadt mit 17,5 Mio. Einwohnern. Die chinesische Regierung hat vor kurzem die zuvor streng kontrollierte Ein-Kind-Politik aufgehoben. Die Straßen sind überfüllt, die Luft ist verschmutzt, aber überall ist es sauber.
Die neuere, moderne Architektur ist erstaunlich, ein Gebäude ist spektakulärer als das andere, und nachts, wenn sie beleuchtet sind, bieten sie ein sehenswertes Bild. Neben diesen sagenhaften Gebäuden befinden sich Hochhäuser, von denen immer noch mehr über die ganze Stadt verstreut gebaut werden. Dort hängt an jedem Fenster Wäsche zum Trocknen. Die Leute in Shanghai schauen etwas düster und ernst drein, aber wenn Sie ihnen zulächeln, werden sie diesen Gruß erwidern. Sie fahren wie Wahnsinnige und keiner lässt den anderen im Straßenverkehr vor. Wenn Sie in Shanghai eine Straße überqueren möchten, ist das so, als müssten Sie um Ihr Leben laufen.
Wir haben jetzt Freunde auf der ganzen Welt, Freunde, die uns mehr wie Familienangehörige erscheinen. Wir können die Opfer, die unsere Eltern erbracht haben, besser verstehen und einschätzen, und sind den Chinesen für alle Zeiten zu Dank verpflichtet, dass sie uns aufgenommen haben und uns in Frieden bei ihnen leben ließen.
China macht heute oft negative Schlagzeilen. Der Ruf von chinesischen Artikeln wie Spielzeug oder Hundefutter wurde beschädigt und diese Produkte wurden als gesundheitsgefährdend entlarvt. Die Menschenrechte sind nicht eine von Chinas besonderen Stärken. Aber trotz all dieser negativen Berichterstattung trifft auf mich und andere wie mich zu, dass wir heute nicht am Leben wären, wenn es nicht die chinesische Regierung und das chinesische Volk gegeben hätte. Sie haben uns gerettet und uns im wahrsten Sinne des Wortes in ihre Arme genommen, als der Rest der Welt uns den Rücken zuwandte.
Mit diesem Bericht habe ich versucht, Ihnen meinen biographischen Hintergrund zu vermitteln und Ihnen von unserer Reise nach China zu erzählen. Ich habe hierbei die auf das Judentum bezogenen Aspekte betont, die zugleich auch die Höhepunkte darstellten.
Ich wünsche mir, dass Sie aus meinen Ausführungen das Wissen um diesen Teil der jüdischen Geschichte mitnehmen sowie die Erkenntnis, dass in einer Zeit, in der weltweit nur wenige für das jüdische Volk eintraten, die Stadt Shanghai in diesem fremden Land China für so viele Menschen ein sicherer Zufluchtsort war.
Hierfür sollten wir alle dankbar sein.
** Dieser Beitrag ist abgedruckt im Meinhardus 2/2017, S.34-48 **