Ansprache zur vierten Verlegung von Stolpersteinen in Meinerzhagen, 6. Juli 2017

Dietmar Först für die Initiative Stolpersteine

 

A wound that is revealed is a wound that can be healed – Eine Wunde, die man zeigt, kann geheilt werden.

Liebe Anwesende,

wir erleben hier heute zum vierten Male eine Verlegung von Stolpersteinen für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in Meinerzhagen, und ich danke Ihnen, dass Sie alle gekommen sind!

(Begrüßung: Jan Nesselrath / BM der Stadt Meinerzhagen; Petra Crone und Dr. Matthias Heider MdB; Gunter Demnig + Sebastian Falz; Presse und Fernsehen; Familie Stracke, vor deren Haus heute die Steine verlegt werden.)

Ganz besonders begrüße ich als Gäste die Nachkommen der Opfer, die den weiten Weg zu dieser Verlegung auf sich genommen haben:Judi & Bernie Cataldo – als für Judis Eltern 2014 Stolpersteine an der Alten Post verlegt wurden, konnte sie nicht kommen, nun ist sie hier mit ihrem Mann; Gail Stern, verwandt mit etlichen unserer ehemaligen jüdischen Mitbürger – und wie sie sagt, inzwischen auch mit uns; und Steve Fischbach mit seiner Frau Marci – Steve ist ein Großneffe von Margot Fischbach, die hier in der Lindenstraße 14 wohnte.

Ich danke allen, die das hier möglich gemacht haben, und die heute hier mitwirken.

Sehr herzlich begrüße ich Sie im Namen der Initiative Stolpersteine, die sich für die Verwirklichung dieser dezentralen, persönlichen Form des Gedenkens engagiert.

Es ist noch nicht lange her, da wurden am rechten Rand unseres politischen Spektrums wieder Stimmen laut, die ein Ende solchen Gedenkens forderten. Dabei haben wir noch nicht einmal die bohrende Frage schlüssig beantworten können: Wie konnte ein solches unglaubliches Morden und Vernichten mitten unter uns eigentlich geschehen?? Vor fast genau einem Jahr starb der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel, der den Holocaust in Auschwitz überlebte – als einziger seiner Familie – und sich den Rest seines Lebens dem Kampf widmete, aufzuklären, zu verstehen, zu erinnern und zu mahnen. Mit Blick auf all die aufarbeitenden Forschungen stellte er im Alter fest:

"Was mich als Kind so beeindruckt hat, war, dass das System funktioniert hat: Die Mörder mordeten, die Opfer starben, die Folterer folterten, andere hatten Hunger und der Himmel war blau. Sie hatten eine besondere Sprache erfunden und besondere Gesetze, es war eine Schöpfung jenseits der Schöpfung, ein Paralleluniversum, wir lebten außerhalb der Zeit, jenseits von Leben und Tod, aber warum es, um Gottes Willen, funktioniert hat, weiß ich bis heute nicht. Meine Fragen sind unbeantwortet geblieben."

An sieben Orten in Meinerzhagen, dort, wo die jüdischen Mitbürger seinerzeit wohnten, sind bereits Stolpersteine für 34 von ihnen verlegt worden. Heute werden wir vier weitere hinzufügen. Alle diese Orte liegen mitten in der Stadt – damals eine kleine Stadt von nicht einmal 5000 Einwohnern. Nein, alle haben gewusst, was damals in ihrer Mitte geschah. Die jüdischen Mitbürger wurden – für alle sichtbar – ausgegrenzt, geschnitten, verunglimpft, ihre berufliche Grundlage wurde zerstört. Sie wurden verhaftet und zur Ausreise gedrängt, die übrig gebliebenen schließlich 1942 deportiert und umgebracht. Von ihnen allen, so der zutiefst menschenverachtende Plan, sollte nicht einmal ein Name bleiben. Keine Spur. Nichts.

Oskar Fischbach, für seine Teilnahme am 1. Weltkrieg noch als „Held“ geehrt, darf als „Jude“ nicht mehr im „deutschen“ Männergesangverein singen. Keiner beklagt das laut. Mieter wollen in dieses Haus, das er mit seiner Frau Jenni 1934/35 errichtet und dessen Erdgeschoss die Fischbachs bewohnen, nicht einziehen. In seinem Viehhandel kauft am Ende keiner mehr ein. So müssen Oskar und Jenni das Geschäft schon 1937 aufgeben und das Haus verkaufen, mit ihren beiden Töchtern Ellen und Margot gelingt ihnen Anfang 1938 – unter Zurücklassen ihrer Heimat und fast allem, was ihnen gehört – die Flucht in die USA, bevor sich die tödliche Schlinge um alle Juden hierzulande schließt.

Müssen wir uns an all das wirklich immer wieder erinnern, erinnern lassen? Zu dieser grundsätzlichen Frage hat Annette Behnken, eine ev. Pastorin, in ihrem „Wort zum Sonntag“ am Auschwitz-Gedenktag im Januar treffende Worte gefunden:

„ Was für ein Quatsch, wenn jetzt einer fordert, dass wir die größte Wunde unseres Landes endlich vergessen sollen, und von unserer ‚dämlichen Bewältigungspolitik’ spricht. Und findet, man sollte den NS-Geschichtsunterricht in den Schulen abschaffen und das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas gleich mit. Genau das (...) gehört zu den größten Leistungen dieses Landes: unsere Erinnerung. Dass wir nicht vergessen und verdrängen, sondern uns an das erinnern, was war. Das ist das Klügste, Stärkste und Heilsamste, was wir tun konnten und tun können angesichts der Geschichte unseres Landes. (...) Und wenn wir uns erinnern, dann geht es nicht darum, wie gebannt auf die Vergangenheit zu starren, sondern von dort aus nach vorne zu schauen. Auf unsere gemeinsame Verantwortung, dafür, dass das nie wieder geschieht. – Sie waren ja welche von uns. Die Opfer. Und die Täter.“

Es ist gut – und ich meine, heilsam – dass wir diese Verlegung von Stolpersteinen für die Familie von Oskar Fischbach heute hier erleben dürfen. Danke an die Familie Stracke dafür, denen das ehemalige „Fischbach-Haus“ seit 1976 gehört und die hier heute leben.

Es ist dabei zutiefst traurig, dass Margot Fischbach, verheiratete Bilinsky, die in diesem Haus ihrer Eltern ihre frühen Kindheitsjahre verbrachte, diesen Tag nicht miterleben kann; sie verstarb letzten Herbst. Wie Elie Wiesel hat Margot (Fischbach-)Bilinsky zeitlebens für das Erinnern gekämpft, damit so etwas nie wieder geschehen möge. Sie hat den Kontakt mit ihrer Heimatstadt und alten Meinerzhagenern gehalten und war 1982 – damals auf Einladung der Stadt – und 1986 nochmals zu Besuch hier. Nachdem die ersten Stolpersteine vor anderen Häusern verlegt waren, sagte sie, obgleich schon krank, einer Meinerzhagener Freundin: „Ich würde zu Fuß über den Großen Teich gehen, um bei der Verlegung von Steinen vor meinem Haus dabei zu sein!“ Diese Form der Erinnerung und des Gedenkens war ihr ein großer Herzenswunsch. Lasst uns an sie, und ihren mittlerweile ebenfalls schwer kranken Mann Herbert Bilinsky, heute besonders denken.

Nun haben wir also eine Form des Erinnerns und Gedenkens in den Stolpersteinen (Dank an Gunter Demnig!), die persönlich ist, soweit das geht; die den Nachkommen der Opfer, wie wir dankbar erfahren durften, aus dem Herzen spricht; und die die junge Generation anspricht, für die Zukunft wachsam zu sein.

„Das Geheimnis der Versöhnung“, sagt Elie Wiesel, „heißt Erinnerung“. Nur eine Wunde, die ich zeige, die ich wahrnehme, die ich realisiere, kann geheilt werden.

Darf ich, dürfen wir hier von Versöhnung sprechen? Wir dürfen, weil die Betroffenen, die letzten Überlebenden aus Meinerzhagen und ihre Nachfahren, es uns gegenüber nun tun. Stolpersteine, so haben sie uns wieder und wieder gesagt, geben unseren Familien ein ehrendes Andenken zurück und einen persönlichen Ort. Durch das Zurückkehren an den eigenen Wohnort könnten die Opfer Frieden finden, sagen die Nachkommen. Kein Einzelner ist vergessen. Das sei auch für sie wie ein Heilen der Wunde. Deswegen hoffen wir, dass auch an den anderen beiden Orten, für die noch nicht geehrten neun Opfer nationalsozialistischer Unmenschlichkeit in Meinerzhagen, bald Steine verlegt werden können.

Uns vermitteln sie durch ihren Hinweis auf die Geschichte: Sieh hin, was geschehen kann, wenn wir nicht Stellung beziehen, nicht eingreifen, nicht einstehen dafür, unser Land und diesen Ort, in dem wir leben, lebenswert für alle zu machen – und die Freiheit zu erhalten.

Ich zitiere noch einmal die ev. Pastorin:

Weil wir uns erinnern, werden in unserem Land Behinderte nicht mehr umgebracht – wie damals – (werden) Menschen nicht wegen ihrer Religion oder politischen Meinung verfolgt. Wenn ich mich umsehe in der Welt, in diesen Tagen, dann denke ich, wir haben noch lange nicht genug erinnert. Verstanden. Kapiert. Noch lange nicht genug dafür gesorgt, dass das nie wieder geschieht. Noch lange nicht genug getan für Versöhnung und gegen Gleichgültigkeit. Wie wir das in Zukunft tun sollen, darüber kann man und muss man vielleicht immer wieder neu nachdenken. Aber dass wir das tun müssen, darüber nicht.“

Ich danke Ihnen.

 

 

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